Es gibt wenige Landstriche auf dieser Erde, welche einem die Folgen der Geschichte als gegenwärtige und spürbare Realität bewusstwerden lassen. Wandert man durch das heutige Berlin sind es lediglich Mahnmale und Hinweistafeln, die einem die frühere Trennung der Stadt ins Gedächtnis rufen. Dass man sich, vor allem als Tourist, sehr genau bewusst machen muss, ob man sich jetzt im ehemaligen Osten oder Westen befindet, deutet darauf hin, wie unnatürlich und willkürlich diese Grenzziehung basierend auf historischen Entscheidungen gewesen ist.
Die russisch-litauische Grenze ist jetzt nicht nur die Grenze zweier ehemaligen Ostblock-Staaten, seit dem Beitritt Litauens zur Europäischen Union verläuft in der Mitte der Kurischen Nehrung die europäische Außengrenze. Man braucht jetzt ein Visum, um einmal über die Nehrung fahren zu können. Möchte man die Nehrung vom Süden aus befahren, muss man nach Russland – in die Oblast Kaliningrad. Die Oblast Kaliningrad ist eine Exklave der Russischen Föderation. Als Garantie für eisfreie Häfen stellte die Oblast Kaliningrad einen strategisch wichtigen Stützpunkt der russischen Marine dar. Böse Zungen bezeichneten die Oblast bereits als „größten Flugzeugträger“ der Russischen Föderation. Heute entdecken viele Russen die Oblast vor allem als Ferien- und Reiseziel.
Eine direkte Anreise zur Nehrung war lange Zeit per Poststraße möglich. Über die Nehrung abkürzend führte die lange Straße direkt nach St. Petersburg und verband das Russische Reich mit Mitteleuropa. Später erfolgte der Ausbau der Eisenbahnstrecke Berlin-Königsberg, eröffnet im Jahre 1853. Durch die Europäische Teilung in Ost und West während des Kalten Krieges waren Bahnfahrten nach Kaliningrad und zur Nehrung nicht möglich. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnten deutsche Touristen wieder in das ehem. Ostpreußen reisen, zunächst auch mit dem Nachtzug. Dabei waren die russischen Schaffner und Zugführer sehr darauf bedacht den Reisenden klar zu machen, dass man nach Kaliningrad und nicht nach Königsberg fuhr. Die lineargrade Südgrenze der Oblast passierend gelangt man letztendlich in das ehemalige Ostpreußen. Alle Orte wurden russisch umbenannt. Wie die Namensgebung von Kaliningrad zeigt, orientierte man sich bei der Namensgebung an zu Ehren gelangten Sowjetbürgern. Da sich die Bevölkerung auf und um die Kurische Nehrung in der ersten Hälfte des 20.Jahrunderts unabhängig von ihrer staatlichen Zugehörigkeit als deutsch betrachtete, sollten die Namensänderungen für eine neue, sowjetische Identität sorgen. Es erschienen kyrillische Buchstaben.
Die Region auf und um die Kurische Nehrung war immer schon eine, in welcher verschiedene Kulturen aufeinandertrafen, blieben, abwanderten oder sich vermischten. Hier traf Ost auf West und Nord auf Süd. Politisch relevant wurde die Region durch die missionarische Expansion des Deutschen Ritterordens, nachdem die Kreuzzüge in das Heilige Land zu Ende gingen. Die dort lebenden „wilden“ Naturstämme der Litauer, Samen, Pruzzen, Schamaiten und Kuren sollten beruhigt und an den christlichen Glauben herangeführt werden. Heute noch kann man viele der Burgen und Festungen bestaunen, allen voran die große Marienburg im heutigen Polen. Der Kampf um den Glauben begann, die Hinwendung zur Naturreligion nahm ab. Die dort lebenden Stämme vermischten sich mit den neuen Siedlern. Auch aufgrund der Vielfältigkeit der aufeinandertreffenden Kulturen wurde die Kurische Nehrung im Jahre 2000 von der UNESCO in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommen. Neben der einzigartigen Natur stellt die Region ein herausragendes Zeugnis der Geschichte der Menschheit dar.
Mit der Säkularisierung des Ordensstaates entstand in der Region das Herzogtum Preußen. Friedrich Wilhelm I rief Anfang des 18. Jahrhunderts zur Übersiedlung in das Land auf und sein Sohn Friedrich II teilte per Kabinettsorder das Herzogtum in Ost- und Westpreußen. Nachdem sich Preußen zum Königreich mauserte und für die Gründung eines deutschen Nationalstaates sorgte, verlor es unter dem Nationalsozialismus seinen Autonomiestatus und wurde zum Verwaltungsgebiet. Trotz der umtriebigen Änderungen in der Geschichte haben sich vor allem die Kuren auf der Nehrung ihre Sprache und Bräuche weit bis in das 20. Jahrhundert erhalten. Noch heute sind Namen und Architektur der Kuren auf der Nehrung erkennbar. Durch die Jahrhunderte waren die Fischerei und die Bernsteingewinnung die Erwerbsgrundlage auf der Nehrung.
Nach der Fluchtbewegung der deutschen Bevölkerung vor dem russischen Militär und später durch die Aussiedlungsprogramme wechselte die dort lebende Bevölkerung nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Vor allem Litauer siedelten sich auf der Nehrung an. Die Nehrung sollte eine touristische Attraktion für Urlauber aus der ehemaligen Sowjetunion werden. Für Deutsche war eine Reise zur Nehrung bis zum Fall der Mauer unmöglich.
Heute kann die Nehrung wieder bereisen, allerdings ändern sich die Bedingungen ständig. Besonders die Eisenbahnverbindungen sind durch die starre Grenze der Oblast Kaliningrad schwierig zu unterhalten und nicht immer verfügbar. Nicht nur, dass man am Grenzposten streng kontrolliert wird – was für einen Europäer des 21. Jahrhunderts eine eher seltene Erfahrung ist – auch ändern sich die Eindrücke nach Grenzüberschritt. Erkennt man im litauischen Teil deutlich, dass europäische Subventionen für Sanierungen sämtlicher Art verantwortlich sind, so ist der russische Teil durchaus immer noch von einem „postsowjetischen Charme“ erfüllt. Die vielen russischen Urlauber, die hauptsächlich aus Moskau (Moskwa) kommen, stört das nicht. Und auch der größte Ambiente-Fanatiker ist spätestens bei der russischen Kulinarik milde gestimmt. Denn etwas Gutes hat die Grenze auf der Nehrung dann doch: Neben der Möglichkeit steuerfreien Wodka an der Grenzstation zu kaufen kann man zwei Kulturkreise erleben.
Möchte man die Beschaffung von Visa und die strengen Kontrollen bei der Einreise vermeiden, kann man per Schiff oder Flugzeug an die litauische Seite der Nehrung, nach Klaipėda/ ehem. Memel gelangen. Der Tourismus blüht hier vor allem in den Sommermonaten. Von Klaipėda auf die Nehrung übergesetzt lässt sich der große Sandstrand der nördlichen Nehrung genießen. Auch nach Nida und in das Memeldelta lässt sich ohne weiteres per Boot gelangen. Man kann also auch ohne die ganze Nehrung gesehen zu haben einen Eindruck als EU-Bürger gewinnen und die Grenze vernachlässigen. Trotz des friedlichen Fremdenverkehrs lässt sich dennoch nicht leugnen, dass ein gespanntes Verhältnis zwischen den Balten und der Russischen Föderation herrscht. Nach den Unabhängigkeitsbewegungen der Baltischen Staaten während Bestehen der ehemaligen Sowjetunion wird das Nachbarland Russland immer noch als Bedrohung wahrgenommen. Es wird zu hoffen bleiben, dass die Region um die Kurische Nehrung nach ihrer ereignisreichen Geschichte nun einem ruhigeren Kapitel entgegensteuert. Der Austausch mit den Baltischen Ländern sowie der Russischen Föderation sollte aus Europäischer Sicht durchaus gefördert werden. Dieser Landstrich verdient besonders aufgrund seiner Geschichte und Lage an Aufmerksamkeit.
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